Politisches Buch - Aljoscha Kertesz legt ausführlichen Interviewband mit früheren Spitzenpolitikern und Wirtschaftsführern vor

Die „Alten“ haben noch etwas zu sagen

Von 
Peter W. Ragge
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Aljoscha Kertesz (l.) interviewt Edmund Stoiber. © Engelsdorfer Verlag

Das Wort steht in roter Schrift auf dem Titel, mit Ausrufezeichen: „Ungekürzt!“ Und genau das ist dem Autor besonders wichtig – und für den Leser der Gewinn. Denn sehr viel ausführlicher als sonst üblich kommen in dem neuen Interviewband „Was macht … ? Ungekürzt!“ von Aljoscha Kertesz ehemalige Spitzenpolitiker, Manager und Verbandsvertreter zu Wort.

Er hat es geschafft: Obwohl Pressesprecher eines in Mannheim ansässigen internationalen Unternehmens und gar kein hauptberuflicher Journalist, ist dem 1975 geborenen Betriebswirt und Kommunikationsberater gelungen, Termine mit Persönlichkeiten zu bekommen, die zumindest mal zur allerersten Garde der deutschen Politik und Wirtschaft gehörten. Über ein Jahr hinweg hat Kertesz die meist einstündigen Interviews geführt. Er reiste dafür eigens nach Berlin, Bonn, Mainz, München und Stuttgart.

In „The European“, dem Fachblatt „Politik & Kommunikation“, aber auch in der Serie „Was macht … ?“ in dieser Zeitung sind Auszüge einiger Gespräche bereits erschienen.

„Dabei wird oftmals durch Kürzen extra zugespitzt. Der Reiz des Buches liegt darin, die Gespräche in voller Länge zu lesen und sich somit ein besseres Bild des Menschen zu machen“, sagt Kertesz – und es stimmt.

Nur ganz wenige Fragen, etwa die zu dem vermutlichen Ausgang der Europawahl, sind überholt – und selbst das ist rückblickend noch interessant. Das Buch zeigt: Kurt Beck (SPD), Rainer Brüderle (FDP), Hans-Olaf Henkel (ehemals Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie), Klaus Kinkel (FDP), Ex-Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter (SPD), Rezzo Schlauch (Grüne), Edmund Stoiber (CSU), Rita Süssmuth (CDU) und Bernhard Vogel (CDU) haben alle noch etwas zu sagen.

Sicher schwingt bei der einen oder anderen Antwort, bei manchem Interview klar der Stolz eines lange aus der vorderen Reihe der Politik verschwundenen Amtsinhabers mit, weiter gefragt zu sein. Und manch ein ehemaliger Spitzenpolitiker poliert natürlich auch erkennbar an dem Bild, das von ihm mal in den Geschichtsbüchern stehen soll. Wehmut spürt man auch.

Distanz zum Tagesgeschehen

Aber die Distanz zum aktuellen Tagesgeschehen hat viele Vorteile – denn umso abgeklärter, differenzierter, teils auch distanzierter zur eigenen Partei fallen teilweise die Antworten aus. Sie müssen ja jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Doch auch wenn der jüngste Interviewpartner 70, der älteste 91 Jahre alt ist, spürt man doch, dass die früheren Funktionsträger sich noch gut auskennen, die Leidenschaft für ihr einstiges Metier nicht erloschen ist. Auf die Erfahrung älterer Menschen zu hören, kann ja nicht schaden.

Und doch ist es kein Buch des erhobenen Zeigefingers von Ehemaligen, die alles besser wissen. Vielmehr erkennt man – mal zwischen den Zeilen, mal deutlich – auch Selbstkritik. Kurt Beck reflektiert bemerkenswert offen seinen Rücktritt als SPD-Vorsitzender und bekennt, dass da lange eine „tiefe Wunde“ blieb, Edmund Stoiber und Bernhard Vogel lassen Revue passieren, wie ihre eigene Partei sie als Ministerpräsidenten stürzte.

Teils bietet das Buch echte Neuigkeiten – wenn etwa Edzard Reuther erklärt, dass und warum er den Wunsch der SPD ausschlug, als Regierender Bürgermeister von Berlin zu kandidieren: „Ich bin doch nicht bescheuert!“ Ohne Hausmacht habe jemand aus der Wirtschaft in der Politik keine Chance, so seine Begründung.

Redaktion Chefreporter

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