Wie lässt sich Europa rehabilitieren, Herr Hacker?

„Nun sag, wie hast Du’s mit der Union?“: Die Gretchenfrage spielt den Neuen Rechten nur in die Hände, sagt Björn Hacker. Was der EU fehlt, ist eine Besinnung auf ihre politische Gestaltungskraft. Ein Gastbeitrag.

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Björn Hacker
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Mit Zu- oder Absagen an die europäische Integration ist noch nichts beantwortet – das zeigt sich auch am Brexit. Im Bild: Demonstranten vor Parlamentsgebäuden in Westminster, London. © dpa/Elke Schöps

Schicksalswahl ist das Modewort der Stunde, wenn über die Wahlen zum Europäischen Parlament diesen Mai gesprochen wird. Der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei EVP, CSU-Mann Manfred Weber, spricht davon. Die SPD-Spitzenkandidatin Katharina Barley ebenso. Und der Parteichef der FDP, Christian Lindner, bläst in dasselbe Horn. Die EU sei in Gefahr, noch nie sei die Bedrohung der europäischen Integration so groß gewesen. Nicht weniger als der Fortbestand des Staatenverbunds stehe zur Disposition, so ist zu hören. Die Wählerinnen und Wähler müssten sich in der Wahlkabine entscheiden: zwischen einem positiven Blick auf die Europäische Union oder ihrer Zerstörung durch die Rechtspopulisten.

In der Tat ist der rechtspopulistische Nationalismus seit den letzten Europawahlen 2014 quer über den Kontinent im Aufwind. Sein erklärtes Ziel ist die institutionelle Schwächung der EU und ihr zumindest partieller Rückbau. Europa, das ist für die Nationalisten die Chiffre für Souveränitäts- und Kontrollverlust, der Transmitter und Verstärker einer in ihren Augen gescheiterten Moderne. Sie wollen die Rückreise antreten in ethnische Volksgemeinschaften und abgeschottete Nationalstaaten einer längst gescheiterten Vergangenheit. Erringen die Rechtspopulisten im nächsten Europaparlament eine Sperrminorität, könnten sie neue Projekte blockieren.

Hilft dagegen die Beschwörung eines Positivbilds der europäischen Integration? Viele Parteien scheinen das zu glauben. Die Warnung vor dem Untergang der EU wird im beginnenden Europawahlkampf gerne mit frohen Botschaften der Versprechen des Integrationsprozesses verknüpft: Friedenssicherung, wirtschaftlicher Wohlstand, Reisefreiheit. Was dabei untergeht, ist eine Auseinandersetzung mit den Defiziten der EU, mit der Frage, warum sie trotz dieser hehren Ziele im Zustand der Dauerkrise verharrt.

Die EU findet keine nachhaltigen Antworten auf aktuell drängende politische Konfliktherde: Die Reform der krisengeschüttelten Währungsunion ist abseits der (noch unvollständigen) Bankenunion seit acht Jahren ohne klaren Fahrplan. Die soziale Spaltung des Kontinents vertieft sich zusehends, da soziale Konvergenz ein sekundäres und optionales Ziel bleibt. Ein einheitlicher Umgang mit Geflüchteten und Wirtschaftsmigranten scheitert an nationalen Egoismen. Europa bewegt sich erst dann, wenn akute Zuspitzungen dringenden Handlungsbedarf erfordern, hangelt sich von Fall zu Fall, ohne ein geordnetes Ganzes erkennen zu lassen.

Die Grundlagen für die heute explodierenden Probleme wurden seit den 1990er Jahren gelegt, indem auf selbsttätige Integrationsvertiefung bei zeitgleich wachsender Kompromisslosigkeit der Mitgliedstaaten gesetzt wurde. Das aber konnte nicht funktionieren: Schengen ohne gemeinsame Asyl- und Grenzpolitik, ein Binnenmarkt ohne sozialpolitisches Regelwerk und eine Währungsunion ohne wirtschaftspolitisches Zentrum – die Versäumnisse sind immens. Nun brennen die Konfliktherde, und die EU wird als Ganzes für ihr unrühmliches Lavieren gestraft.

Wenn nun in Reaktion auf die Neuen Rechten zur unkritischen Verteidigung des Etablierten aufgerufen, die Europawahl zur Richtungsentscheidung stilisiert wird, nutzt dies jedoch dem politischen Gegner. Mit der pauschalisierenden Gegenüberstellung des „Für“ und „Gegen“ Europa wird exakt die Diskurslage befeuert, die sich die Rechtspopulisten so sehnlichst wünschen. Dieser vereinfachende Antagonismus ist es, der alle Sachthemen verengt und zur Unkenntlichkeit schrumpfen lässt.

Die Gretchenfrage des Europawahlkampfs 2019 – „Nun sag, wie hast Du’s mit der Union?“ – erleichtert den Neuen Rechten ihr Heilsversprechen einer scharfen Kehrtwende zurück zum Nationalstaat. Die Ablehnung der EU geht hier immer einher mit einer suggerierten Handlungsrückgewinnung durch Komplexitätsreduktion. An Banalität sind die Antworten kaum zu überbieten: Ohne Euro keine Eurokrise, ohne Flüchtlinge keine Flüchtlingskrise, ohne Europaparlament kein Demokratiedefizit in der EU.

Die von der AfD und ihren europäischen Schwesterparteien angeregte Gewissensprüfung des „Dafür“ und „Dagegen“ polarisiert. Zur Europawahl im Mai droht sich das Gegensatzpaar „mehr“ und „weniger“ Europa erstmals in der gesamten EU zum zentralen, möglicherweise wahlentscheidenden Debatteninhalt aufzuschwingen. Das ist fatal, denn das simple Pro und Kontra überformt und verhindert die Auseinandersetzung mit den Sach- und Zukunftsfragen der Gemeinschaft. Die Polarisierung überwölbt die dahinter liegenden Konfliktfelder. Sie adressiert nicht die konkreten Probleme mangelnder europäischer Kooperation und Lastenteilung in der Wirtschafts- und Währungsunion, der sozialen Spaltung des Kontinents und im Umgang mit der Migration nach Europa. Inhaltlich und strategisch führt sie in eine Sackgasse. Der Brexit legt hiervon beinahe täglich Zeugnis ab: Nichts ist mit großspurigen Zu- oder Absagen an die europäische Integration beantwortet.

Nach einem bis heute nicht enden wollenden Krisenmarathon befindet sich die EU in der Defensive. Um sie dort herauszuholen, wird kein pauschaler Zuspruch zum Integrationsprozess benötigt. Gefragt ist vielmehr eine Lösung von der eigenen Nabelschau, damit Europa eine neue Rolle als Rettungsanker in instabilen Zeiten findet. Der Westen mag auseinanderbrechen, die Weltordnung sich ändern, Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel zu kaum noch ignorierbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen führen, die liberale Demokratie in Gefahr geraten – auf dem alten Kontinent streitet man sich lieber um kleinteilige nationale Vorteile.

Selbst dort, wo sich globale Risiken in Form größerer Migrationsbewegungen, wachsender Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie höherer Krisenanfälligkeit des Wirtschaftssystems in den europäischen Problemen manifestieren, wird gehadert, blockiert und konflikt- statt lösungsorientiert gestritten. Doch was ist der Vorteil einer EU, die sich im Umgang mit den kleinen und großen Herausforderungen unfähig zeigt, und die Verheerungen der Globalisierung noch verstärkt?

Die EU hat die Chance, eine Schutzfunktion vor globalen Herausforderungen auszubilden, die alle Mitgliedstaaten treffen. Dafür muss sie jedoch ihre Binnenprobleme lösen und das wird nur durch Aufgabe des Vertrauens in sich selbst einstellende Integrationsvertiefungen durch einmal begonnene Projekte funktionieren. „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“, dieser Ausspruch wird dem einstigen Kommissionspräsidenten Jacques Delors zugeschrieben. Der Glaube an eine dem europäischen Markt von allein entspringende politische Union ist angesichts der heftigen Krisen der letzten Jahre zu begraben. Das wachsende Unbehagen der Bürgerinnen und Bürger – der Verdruss über die Globalisierung, der Verlust des Aufstiegsversprechens und die Politik der Alternativlosigkeit: All dies kann nur durch aktive Europapolitik angegangen werden.

Das Wirtschaftswachstum anregen und den Wettbewerb stärker regulieren, das in aller Vielfalt doch existente Europäische Sozialmodell bewahren und grenzüberschreitende Herausforderungen nachhaltig angehen sind die Bausteine, um Europa zu rehabilitieren. Ein offensives Eintreten für die EU kann nur über ihren Nutzen im Umgang mit der Globalisierung gelingen. Dafür braucht es die Wende von der Marktgläubigkeit zur Politikgestaltung. Selbst globale Risiken sind Scheinriesen, wenn ihnen ein entschlossenes gemeinschaftliches Handeln begegnet.

Wie dies gelingen könnte, wäre eine Auseinandersetzung innerhalb der großen Fraktion der „Europafreunde“ im Wahlkampf wert. Sie würde das Korsett einer Debatte verlassen, die grundsätzliche Bekenntnisse zum Nationalstaat oder zur europäischen Einigung verlangt. Denn sie würde politische Differenzen sichtbar machen und damit den Rechtspopulisten ihre Selbstinszenierung als weit und breit einzige politische Alternative vereiteln.

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Björn Hacker



Björn Hacker, 1980 geboren, ist Professor für europäische Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin.

Nach einem Studium der Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Universität Osnabrück und dem Institut d’Études Politiques Paris promovierte er über das Europäische Sozialmodell.

Kürzlich ist sein Buch „Weniger Markt, mehr Politik. Europa rehabilitieren“ im Dietz-Verlag erschienen. Am Dienstag, 7. Mai, 20.15 Uhr, liest Hacker in der Buchhandlung Schmidt & Hahn in Heidelberg.

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